Sonntag, 26. Februar 2017

Populismus




ULRICH LANGE
13.01.2017 | 10:52 5

Volkes Stimmung


Panorama vom 12.01.2017 | Die Vertrauenskrise zwischen Politik und Bevölkerung reicht bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Das wirft Fragen auf. Aber werden überhaupt die richtigen gestellt?
Das rheinland-pfälzische Haßloch gilt laut Statistik als durchschnittlichster Ort Deutsch-lands. Und eine aktuelle Studie der Bertelsmannstiftung belegt: Ganz Deutschland geht es so gut wie nie! Und wenn es ganz Deutschland gut geht wie nie, muss das auch auf den durchschnittlichsten Ort Deutschlands zutreffen, den man auch - wegen der fehlenden historischen Stadtrechte - "das größte Dorf Deutschlands" nennt. Trotzdem haben - ÜBERRASCHUNG! - über 18 Prozent der wahlberechtigten Haßlöcher sich bei der Kommunalwahl 2016 für die AfD entschieden. Das ist deutlich mehr als im Landes-durchschnitt (12,6 Prozent). Grund genug für "eines der erfolgreichsten Politik-Magazine des Deutschen Fernsehens" (Eigenlob ARD), diesem vermeintlichen Widerspruch in einem 27-minütigen Beitrag mit dem Titel "Wozu Demokratie?" nachzuspüren und am Haßlocher Exempel aufzuzeigen, wo die Ursachen der wachsenden Entfremdung zwischen den Bürgern und ihren lokalen Volksvertretern liegen, als die der kommunale Erfolg der Rechtspopulisten mal so en passant interpretiert wird.

Falsche Prämissen, falsche Fragen

"Manch einer denkt offenbar", so eröffnet Moderatorin Anja Reschke mit der strengen Miene einer katholischen Grundschullehrerin im Sexualkunde-Unterricht das kommunalpolitische Seminar, "man brauche gar keine Demokratie mehr." Ist das wirklich das Problem? In dem dann folgenden Filmbeitrag wird nur eine einzige bizarre Stimme aus der Hasslöcher Bevölkerung vorgeführt werden, die lieber wieder einen Kaiser oder König hätte. Ansonsten greift man auf bundesweite Umfragen zurück, die unter anderem 11 Prozent der Gesamtbevölkerung als Befürworter des Führerprinzips ausweisen. Und ob da nicht möglicherweise türkische Erdogan-Anhänger mit deutschem Pass mitgezählt wurden, bleibt vollkommen außerhalb der Betrachtung. Hinweise darauf wären uns vielleicht sogar aufgrund irgendwelcher sender- oder redaktionsinternen Sprachregelung vorenthalten worden, weil uns das unnötig beunruhigt hätte. Das nur zum Thema: Wie lügen Medien und warum?

Die Panorama-Autorinnen Fabienne Hurst und Jasmin Klofta entwickeln ihr Thema Demokratieskepsis im "Minideutschland Haßloch" entlang der zweifelhaften Hypothese, dass sich dort antidemokratische Einstellungen trotz, also im Widerspruch zu dem dort herrschenden Wohlstandniveau entwickelten. Damit konstruiert man zugleich den moralischen Vorwurf vom "undankbaren Bürger", der die ganze Reportage störend durchzieht wie Gräten ein schlecht entgrätetes Fischgericht. Ob Wohlstand eine Voraussetzung der Demokratie oder umgekehrt Demokratie eine Voraussetzung für Wohlstand sei (vgl. Modernisierungsthese) gilt unter Experten als noch nicht eindeutig entschieden. Henne oder Ei? Die empirische und vergleichende Demokratieforschung kennt keinen Deter- minismus, der bei Vorliegen der einen oder anderen Voraussetzung demokratische Verhältnisse eintreten lässt. Entstehung und Stabilität demokratischer Ordnungen hängen von vielerlei Faktoren ab.
Monokausale Wirkungsketten scheinen zur Erklärung des Phänomens AfD ungeeignet. Ulrich Schulte reduziert den Erfolg der Rechtspopulisten in der "taz" auf die Formel "geronnener Hass". Dass nun ausgerechnet ein Ort namens Haßloch bei Panorama zum Referenzobjekt für die aus geronnenem Hass aufkeimende Demokratieverdrossenheit wird, ist wohl eher eine Zufallspointe als filigranes Wortspiel. Journalistische Aufgabe hätte es nun allerdings sein müssen, besser verstehen zu helfen, was da gerade in einem Deutschland geschieht, das sich nach einem zunächst schwierigen Weg zur Demokratie bis zuletzt gern als "Erfolgsmodell" gefeiert hat und plötzlich - wie viele andere Länder der westlichen Hemisphäre auch - von erdrutsch-artigen Wahlerfolgen der Rechtspopulisten erschüttert wird.
Die Zustimmung der Bevölkerung zu den etablierten Parteien schwindet seit längerem. Doch machte sich dies zunächst nur als Zuwachs des Nichtwählerlagers bemerkbar. "Doch immer" lesen wir auf RP-Online,
"wenn sich die Elite eines Systems – sei es Kirche, Gewerkschaft oder eben die Parteiendemokratie – allzu sicher wähnt, stellen sich Verschleißer-scheinungen ein. Wie ihrer Schwester, dem Kapitalismus, ist auch der Demokratie, der "besten aller Regierungsformen" (Winston Churchill), das Ende der Systemkonkurrenz nicht immer gut bekommen. Populistische Demagogen, Ein-Thema-Parteien oder Polit-Clowns machen den etablierten Parteien in fast allen Ländern der westlichen Welt das Leben schwer. Umgekehrt haben die Platzhirsche unter den Parteien den Staat zum Teil in Besitz genommen. Wichtige Posten werden nach Proporz vergeben, Klientelinteressen werden bedient und die Kosten auf die Allgemeinheit überwälzt. Besonders die Finanz- und Staatsschuldenkrise hat das fragile Gebilde Demokratie im Westen großen Erschütterungen ausgesetzt. Wenn plötzlich die Steuerzahler für die Fehler der Finanz- und Staatselite aufkommen müssen, sind sie schnell bereit, radikalen und simplen Problemlösern die Stimme zu geben. Wenn den etablierten Parteien [oder (ehemaligen) Spitzenpolitikern, d. Verf.] noch Selbstbedienungsmen-talität bescheinigt wird [...], gerät das System aus den Fugen."
Vor dem Hintergrund solcher - mittlerweile doch gut kummunizierter - Erkenntnisse erscheint es unverständlich, dass Panorama sich auf eine Deutschland-Expedition begibt, die in der Vorderpfalz aufrechte Lokalpolitiker aufstöbern soll, die sich für das Gemeinwohl den Allerwertesten aufreißen sowie sich die Hacken ablaufen, um die Wünsche des Bürgers zu erfragen, während der wider alle haushälterische Vernunft nur Wohltaten einfordert, Ausländerfeindliches absondert, sich statt für die großen Fragen der Demokratie nur für das Kleinklein der unmittelbaren Nachbarschaft interessiert und trotz eigenen Wohlergehens und damit entgegen der eigenen Interessenlage der Partei der abgehängten Wutbürger aus dem Stand zweistellige Wahlergebnisse beschert. Einen Kurzbeitrag hat man eigens ausgekoppelt, um in 01:25 min die Leiden der Vorsitzenden von CDU und SPD beim "Klinkenputzen für die Demokratie" zu dokumentieren.

Problemblind

Warum nimmt Panorama die im wortwörtlichen Sinne "vielschichtigen" Ursachen für Demokratiefrust und Wählerprotest nicht zur Kenntnis? Dass nicht nur die Wende-Looser aus dem Osten und Strukturwandel-Opfer aus dem Ruhrpott AfD wählen, ist doch inzwischen vielfältig belegt. Was bringt es noch, den Popanz aufzubauen, dass da in der Vorderpfalz tumbe Dialektgeschädigte trotz hohen Einkommens eine Armeleute-Partei wählen?
Laut Analyse der taz ist die AfD "die ideale Projektionsfläche für viele", die von Europa enttäuscht sind und denen Merkels CDU zu "sozialdemokratisch" geworden ist. Das aber steht in keinerlei Widerspruch zu der aus Sicht der Statistiker insgesamt (noch) komfortablen Lebenslage der Gesamtbevölkerung. Gleiches gilt für Zukunftssorgen Vieler angesichts weltweiter Sozial- und Wirtschaftskrisen bzw. militärischer Konflikte. Im Gegenteil: Je mehr man hat, desto mehr hat man auch zu verlieren. Fazit: Auch satter Wohlstand des Wahlvolks nützt den etablierten Parteien gar nichts, wenn die "German Angst" um sich greift und man den alten Eliten nicht mehr zutraut, die Bedrohungen abzuwehren.
Dass die AfD auch die Verbitterten, die "Pedigisten der Republik" (taz), hinter sich versammelt und auch bei diesen "mit den Flüchtlingen das ideale Mobilisierungsthema gefunden" hat, das ihr "auf nicht absehbare Zeit die Verängstigten" zuführt, beweist lediglich, dass "besorgte Bürger" aus sehr unterschiedlicher Lebenssituation heraus besorgt sein und trotzdem dieselbe (Protest-)Partei wählen können. Und je größer der Abstand der Betrachtung bzw. je internationaler die Betrachtungsweise, um so mehr verschmelzen die Wahlmotive der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. So wird der wissenschaftliche Leiter der BAT-Stiftung für Zukunftsfragen, Ulrich Reinhardt, in der Illustrierten Stern wie folgt zitiert:
"Die gegenwärtige humanitäre Krise und die zunehmende Angst vor Terroranschlägen hat die Bevölkerung tief verunsichert und lässt sie an einer positiven Zukunft zweifeln [...] Der Rechtstrend bei Wahlen in Polen, Frankreich, Ungarn, Österreich, Schweden, Großbritannien, Dänemark oder der Schweiz zeigt in ganz Europa die große Verunsicherung der Bevölkerung, die Angst um den eigenen Wohlstand hat, sich vor Überfremdung fürchtet und nationale Interessen in den Vordergrund stellt."
Das hätte eine erste differenzierte Antwort auf die Frage sein können, warum eine wachsende Zahl der Bürger sich von den Volksparteien abwendet und das traditionelle Demokratie-Modell immer weniger schätzt. In der Vorderpfalz zu wohnen, heißt schließlich nicht, die Krisen-Ursachen in der Welt, in Bund und Land nicht wahrzunehmen.

Demonstration am falschen Objekt

Doch der Panorama-Beitrag setzt problemblind bei einem lokalen Konfliktthema an, um Belege einer wachsenden Demokratieskepsis der angeblich für ganz Deutschland repräsentativen Haßlöcher zu finden, nämlich der drohenden Schließung des Hasslocher Badeparks (Freibad). Ein schwieriges Unterfangen. Da mögen noch so viele Hersteller von Konsumgütern in der durchschnittlichsten Gemeinde Deutschlands die Marktfähigkeit ihrer Produkte testen lassen - allgemeine Rückschlüsse auf den Wandel politischer Einstellungen und Werthaltungen sind dann doch noch etwas anderes.
Tatsächlich entstand unter den knapp über 20.000 Haßlöchern im Zeitraum der Panorama-Recherche ein Konflikt um die von den Rathausfraktionen beschlossene Schließung des örtlichen Schwimmbads. Das fährt eine Million Euro Miese pro Jahr ein. "Geld, das woanders dringend gebraucht würde", wie der Hofberichterstatter von Panorama das Problem aus dem Off affirmativ erläutert. Leider erfährt man aber über dieses woanders Dringendere weiter nichts, so dass ein Abwägen der Optionen schwer fällt. Warum hat man denn früher so viele Schwimmbäder gebaut? Nur weil die Lokalpolitik ihre Wähler durch Geschenke bei Laune halten wollte, wie die Panorama-Autoren dies unterstellen?
„Unsere öffentlichen Bäder haben eine herausragende Bedeutung für den Freizeitwert und die Lebensqualität unser Städte",

rechtfertigte z.B. im Jahr 2013 die hessische Staatsministerin Lucia Puttrich die millionen-teure Sanierung eines Hallenbades im etwa vergleichbaren 25.000-Einwohner-Städtchen Butzbach. "Auch machte die Ministerin deutlich", heißt es in der Presseerklärung des Ministeriums für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz weiter,

"dass Hallenbäder nicht nur einen Freizeitwert besitzen, sondern auch Ausbildungszentrum für Schulen, Breiten- und Leistungssport, sowie wichtig für Gesundheit, Fitness und Rehabilitation sind."
Gilt das für das Haßlocher Schwimmbad nicht? Panorama sieht darin - merke auf - das "Symbol einer Zeit, in der es immer nach oben ging und Vater Staat seinen Kindern Geschenke machte." Die Schwimmbadbenutzer dagegen haben eine ganz andere Wahr-nehmung. O-Ton Panorama:
"Deutschland hat für jeden Geld. Nur für die eigenen Leute nicht. Für die Oma nicht, für den Opa nicht, für den Kindergarten nicht, für das Schwimmbad nicht."
Und:
"Weil von oben herunter gemacht wird, was die für richtig halten, und oft nicht, was das Volk für richtig hält."
"Ich tät' sagen, die sollen sich alle anstrengen, dass wirklich die Bäder offen sind. Das ist das A und O. Luxus des kleinen Mannes, in meinen Augen."
Ist die Sichtweise von Otto und Ottilie Normalverbraucher in diesem Zusammenhang denn so falsch? Panorama schlägt sich jedoch kompromisslos auf die Seite der alteingesessenen Parteipolitiker, die Haßloch so lange mal abwechselnd, mal gemeinsam, aber vor allem immer ungestört von nörgelnden Protestwählern, regiert haben:
"Was also tun als Kommunalpolitiker? Eigentlich müsste man das Bad verkleinern oder schließen. Aber sowas einfach entscheiden oder durch-setzen, traun sie sich nicht mehr. Lieber wollen sie sich die Sparmaßnahmen von den Hasslochern absegnen lassen. Per Bürgerbefragung."
Und die Bürger haben dann ganz anders entschieden als von den Großkoalitionären aus CDU und SPD erhofft. Der Gegenvorschlag einer Bürgerinitiative und der Opposition, zusätzlich zu investieren, um das Bad größer und attraktiver zu machen und dadurch wieder höhere Einnahmen zu erzielen, setzte sich durch. 59 Prozent der Bürger hat das überzeugt. Demokratischer geht`s eigentlich gar nicht. Aber Panorama empört sich:
"Ausgerechnet der Bürger will das Finanzproblem jetzt auch noch ver-schlimmern."
Auch die so genannten Volksparteien zeigen sich als schlechte Verlierer und würden jetzt gern ein neues Volk wählen. Doch erstmal bekommen diese Weicheier von Volksvertretern von Tante Fabienne und Tante Jasmin ordentlich den Marsch geblasen:
"Ein selbst eingebrocktes Dilemma. Statt die Bürger zu befragen, hätten die Politiker auch selbst entscheiden können. Sicher unpopulär, aber schließlich wurden sie gewählt, um solche schwierigen Probleme zu lösen. Nun müsste man noch mehr Schulden machen, um Volkes Willen ganz zu erfüllen."
Was sollte an der Schwimmbad-Thematik denn nun eigentlich gezeigt werden? Wo waren die Wutbürger, wo die nicht gesprächsbereiten Politiker? Letztere sahen vor allem deshalb so schlecht aus, weil sie sich in die falsche Rolle des Politik-Dienstleisters haben drängen lassen, der am Ende zusehen muss, wie er das Geld für die Erfüllung der unbescheidenen Wünsche des nimmersatten Wählers zusammenbringt. Was hier fehlt, ist qualifizierte Bürgerbeteiligung. Sind Verfahren, die Vertreter von Bürgerinitiativen und sonstige Inter-essierte im Vorfeld der Entscheidungen hinsichtlich des erforderlichen Sachverstands auf Augenhöhe bringen, eine ernsthafte Erörterung von Alternativlösungen erlauben und am Ende in ein qualifiziertes Abstimmungsverfahren und eine breite Information der Öffentlichkeit einmünden.

Bürgerschelte und erschrockene Gutmenschen

Doch zurück zur Bürgerschelte. O-Ton CDU-Mitglied:
"Manchem gehört wirklich das Wahlrecht entzogen, ne. Die wählen einfach was, ohne überhaupt nachzudenken."

Dem würde man so nicht unbedingt zustimmen, denn diese Art des Umgangs der Politik mit dem Wahlvolk soll doch die Krise der Demokratie erst hervorgerufen und dazu geführt haben, ein umfangreiches Arsenal neuer Formen von Bürgerbeteiligung auf europäischer wie auf nationaler Ebene zu entwickeln.


Doch da hat Panorama vorgebaut und bis dahin schon einige peinliche Hinterwäldler als typische Beispiele für demokratieunwürdiges Wählerpack präsentiert. Die ALG II-Empfängerin Martina B. zum Beispiel, die einmal in der Woche bei der Tafel nach kostenlosen Lebensmitteln ansteht. Die ist erkennbar wenig gebildet, geht schon lange nicht mehr wählen (Kommentar: " 'Bringt nichts', sagt sie. Für sie mache ja eh keiner was.") und findet diese ganzen Parteien und parlamentarischen Gepflogenheiten doof. Früher sei es doch viel schöner gewesen, wo jedes Land seine eigene Währung und einen "eigenen Präsidenten" hatte, um seine nationalen Interessen zu verteten. Wahlen, so erklärt sie (allerdings erst auf suggestive Nachfrage der Reporterin), brauche es nicht, "wenn man einen König oder Kaiser hätte, der entscheiden könnte". Da wäre alles weniger kompliziert und würde "schneller gehen für das Volk". Leute mit anderer Meinung als die Obrigkeit, so erklärt sie wieder nur auf journalistischen Vorhalt, müssten eben veranlasst werden, nochmal gründlich darüber nachzudenken (was immer das heißt), ob sie nicht doch falsch liegen. Und auf die Reporterfrage, was denn wäre, wenn der Kaiser ihr einfach mal die Stütze streichen würde, weiß sie keine Antwort. Und wer denn denen geholfen habe, denen SPD, CDU, Grüne und FDP unter der Regierung Schröder/Fischer 2005 die Sozialleistungen zusammengestrichen hatten, wird sie vorsichtshalber nicht gefragt. Dann würde sie "auf der Straße leben", sagt sie. Allein die Vorstellung lässt Tränen aufsteigen, und es flackert nackte Existenzangst hinter ihren Brillengläsern. O-Ton:
"Ich lass mich eigentlich nicht unterkriegen. Es wär' saumäßig."
Aber nun kommen endlich auch Gutsituierte zu Wort. Den einen stört der Lärm aus den benachbarten Sozialwohnungen der Stadt. Das Asylanten- oder Flüchtlingsproblem scheint etliche zu bewegen. Die Beherrschung der Hochsprache liegt allerdings (uralter Kabarettisten-Joke!) bei der interviewten Urbevölkerung oft auf ähnlich unbefriedigendem Niveau wie bei mehr oder minder frisch Zugewanderten, deren vermischungsfreudige Offerten man sich verbittet.
O-Ton Anwohnerin einer besseren Wohngegend (keine Einblendung des Namens):
"Da sind viele Asylante, mit dene wir uns rumkämpfe müsse. [...] Ich fühl mich als Deutscher hier nicht mehr richtig wohl. Wenn ich Ausländer um mich rum haben möcht, fahr ich ins Ausland. [...] Es könnte einiges besser gestaltet werden. Aber da müsste man richtig dran arbeiten."
O-Ton älterer Anwohner (keine Einblendung des Namens):
"Die kriege alles in de Arsch geschobe. Wenn ich mich erinnere als Kind, wie wir gelebt hen, und was die heut' in de Arsch geschobe kriege, das geht auf kei Kuhhaut.
O-Ton Michael H., pensionierter Polizist, CDU-Mitglied und Eigenheimbesitzer:
"Das sind Spekulationen, sind aber die Sorgen, die viele, viele Mitbürger in unserem Land hier haben: Dass das alles dazu führt, dass irgendwann einmal von Unsereinem nicht mehr viel übrig ist. Dass diese Republik in der Tat eine andere wird. Wenn das so kommen sollte, dann würde das deutsche Volk - eine weiße Hautfarbe hat es ja nun mal - das wäre dann von der Bildfläche getilgt."
So viel Unaufgeklärtheit und Provinzialität schreit natürlich förmlich nach moralischer Zurechtweisung. O-Ton Dieter Schumacher, SPD-Vorsitzender von Haßloch:
"Ich bin hier aufgewachsen. [...] Von der Seite her kenn ich die alle. Und ich weiß, dass es vielen gut geht. Und ich weiß, dass gerade hier in der Gegend es nicht einen einzigen Asylant gibt, nicht einen, vor dem man sich fürchten muss. Und dass die dann trotzdem alles so wahrnehmen, das erschreckt mich, erschreckt mich wirklich."
Aber sind die gezeigten Beispiele wirklich so furchterregend , wie man uns das hier glauben machen will? Der Versuch der Panorama-Reporter, den Niedergang der Demokratie ausgerechnet anhand der im Bevölkerungsdurchschnitt weit verbreitXenophobie zu illustrieren, ist mehr als fragwürdig. Die ständigen Berichte der Medien über Ausländer-kriminalität, aggressives Betteln, gewalttätige Übergriffe, Taschen- und Einbruchsdiebstähle, islamistische Attentate usw. verbinden sichin den Köpfen vieler Menschen mit biologisch "vererbten" Urängsten, die in einem primitiven Teil des Gehirns entstehen und sich deshalb von rationalen Überlegungen nur schwer steuern lassen. Man weiß nicht einmal, ob diejenigen, die da vorgeführt werden, tatsächlich demnächst der AfD zum Opfer fallen oder einfach nur zur fremdenängstlichen Bevölkerungsmehrheit zählen, die in allen Gruppierungen der Gesellschaft vertreten ist.

Auflösen nach (ni)x

Nach solch verstörenden Jagdszenen aus der vorderpfälzischen Provinz erscheint es der Panorama-Crew nun doch noch geboten, die internationale Dimension des Themas ins Spiel zu bringen. Vor dem Hintergrund rasch übereinander geblendeter Symbolbilder wie Europakarte, Straßenschluchten zwischen Wolkenkratzern, einer asiatischen Textilfabrik und einem endlosen Zug von Flüchtlingen stellt ein Erklär-Bär magisch aus dem Off die Frage aller Fragen:
"Ist es wirklich nur die Politik, die komplizierter geworden ist. Oder sind es die Probleme, die zu bewältigen sind?"

Und damit mutiert Panorama endgültig zur  "Sendung mit dem Klaus". Das tut einem vor allem für Moderatorin Anja Reschke leid, die mit ihrer zu Recht preisgekrönten Reportage "Wie Bildung Klassen schafft" bewiesen hat, dass man die Entwicklungstendenzen dieser Gesellschaft auch sachkompetenter analysieren kann.


"Jedes ungelöste Problem schürt Misstrauen am Staat, an der Demokratie!", belehrt die altkluge Stimme aus dem Off. Mal abgesehen von der ungelenken Sprache: Probleme stürzen nicht mal einfach so vom Himmel herab und fallen dann "dem Staat" vor die Füße. Sie sind mehrheitlich von falscher Politik verursacht worden und müssen von konkreten Personen, die zumeist die Interessen anderer konkreter Personen mit Hilfe dieser Politik durchgesetzt haben, auch verantwortet werden. Und darüber muss man aufklären. Und das muss man auch einfordern. Und deshalb wehrt sich der "Wutbürger" zu Recht gegen eine Politik, die Teil des Problems, aber immer seltener Teil der Lösung ist. Da mag man sich über bestimmte Formen des Protests entrüsten, doch gehört dies zur Waffengleichheit in einer freien Gesellschaft. Bestimmte Formen der Politik sind schließlich genauso unqualifiziert, unverschämt oder unfair.

Was ist denn die wahre Ursache der Sparzwänge in den Städten und Gemeinden, die dazu führen, dass nicht nur in Haßloch wichtige Sport- und Freizeitstätten zur Disposition stehen? Oder die wahre Ursache der Banken- und Finanzkrise von 2005, die viele Menschen in Zukunftsängste stürzte? Dito die Finanzkrise von 2007-2010, die zur Schuldenkrise wurde? Oder was ist die wahre Ursache der Flüchtlingskrise, die den Staat so massiv überfordert, dass ohne ein Heer von ehrenamtlichen Helfern längst die humanitäre Katastrophe ausgebrochen wäre?
Und nur, um in diesem Zusammenhang mal mit diesen ewigen Integrations-Mythen aufzuräumen: Die Vertriebenen aus dem Osten wurden während des letzten Weltkrieges und erst recht in den von Hunger und Wohnungsnot geprägten Folgejahren von Ihres-gleichen im westlichen Teil des Vaterlandes alles andere als freundlich aufgenommen. Nächstes Stichwort Wiedervereinigung: Mehr als 20 Jahre nach dem Fall der Mauer klaffen laut "Berliner Tagesspiegel" die "reale und gefühlte Vereinigung weit auseinander.

"Objektiv ist sie abgeschlossen, der doppelte deutsche Michel hat heute nur einen Leib. Subjektiv jedoch, also im Kopf, sind Ost- und Westdeutsche noch lange nicht eins. So fanden beim „Thüringen-Monitor“ 2008, noch über 60 Prozent der Befragten, Westdeutsche behandelten Ostdeutsche wie „Menschen zweiter Klasse“. Unter den 18- bis 20-Jährigen waren sogar 76 Prozent dieser Ansicht. Vor allem die Familien der Vereinigungsverlierer, so Wagner, tradierten das Vorurteil, der Westen sei an allem schuld. Ein Fünftel der ostdeutschen Bevölkerung erwies sich als DDR-nostalgisch. Auch im Westen gedeihen massive Vorurteile, und zwar in allen Schichten, umso mehr, je weniger Ostdeutsche man kennt."

Auch kein Ruhmesblatt: die Probleme der seit Anfang der 1960er Jahre zugewanderten Türken, nachzulesen in dem ZEIT-Beitrag "Glückwunsch, Türke!". Aber der Supergau des kollektiven Integrationsversagens kommt zum Schluss. Werfen wir zunächst mal einen Blick auf die Integration von Behinderten in unsere Konsum- und Leistungsgesellschaft. Da wäre noch unendlich viel zu tun. Aus Integration soll dennoch jetzt Inklusion werden. Eine Mammutaufgabe für Jahrzehnte, die nicht einmal im Ansatz gelöst ist. Und gerade jetzt erreicht uns der Oxfam-Bericht über die derzeitige Verteilung von Reichtum und Armut in der Welt. Die ersten acht Männer im Forbes-Ranking besitzen ein gemeinsames Vermögen von 426 Milliarden US-Dollar, mehr, als der gesamten ärmeren Hälfte der Weltbevölke- rung - über dreieinhalb Milliarden Menschen - zur Verfügung steht. Mag die Methodik der Studie auch umstritten sein. Fakt bleibt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer dramatischer auseinanderklafft. Auch in unserem Land, wo laut Oxfam 36 Milliardäre so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Deutschen, gibt es eine himmelschreiende Gerechtig-keitslücke, die interessanterweise auch nach sozialdemokratischer Auffassung nur durch einen "starkenStaat" (!!!) beseitigt werden kann, der in der Lage ist, die Steuervermeidung von Wohlhabenden und internationalen Konzernen zu bekämpfen (globaler Mindeststeuer-satz für Konzerne), für Transparenz der Gewinnerzielung von Apple, Google und Co sorgt, und Steuerparadiesen den Garaus macht. Vorerst aber schaut nicht nur Mutti bei diesem Thema stumm auf dem ganzen Tisch herum, während die soziale Spaltung der Gesellschaft immer deutlicher ins Auge fällt. Diese speist und verstärkt sich aus diversen Quellen: Depravierung und Exklusion aufgrund staatlicher Sozialpolitik, Segregation aufgrund der Mechanismen des Wohnungsmarktes, Altersarmut aufgrund unterbrochener Erwerbsbio-grafien oder infolge von Leiharbeit und Niedriglöhnen, aber auch so kompliziert klingenden Ursachen wie dem "Phantasma einer sozialmoralischen Ansteckungsangst (Bude)", womit die Abgrenzungsbemühungen einer von Bildungspanik besessenen, aufstiegsorientierten Mittelschicht gemeint ist, die ihrem Nachwuchs den Kontakt mit Hartz-IV-lern, Migranten aus dem arabischen und nordafrikanischen Raum sowie all den anderen zu ersparen versucht, die in Verdacht stehen, ihre eigene Bildungskompetenz und Bildungsmotivation nicht zu teilen.


Die Politik - von deren Spitzenvertretern im Bund bis ganz hinunter auf die Gemeindeebene - erweist sich nun aber gegenüber dieser Armutsentwicklung einschließlich der damit verbundenen besonderen Problemlagen und sozialen Konflikte oft als unsensibel, uninformiert und vor allem handlungsunfähig, redet die Dinge schön und hat nichts Besseres zu tun, als die Probleme jeweils auf die Menschen "vor Ort" abzuwälzen: Beispielsweise auf die Anwohner ghettoisierter Stadtviertel, die öffentlichen Schulen, die Kirchengemeinden, die Ehrenamtlichen u.v.a.m.
Anstatt nun aber die realen und nachvollziehbaren Gründe der verbreiteten Politiker- (NICHT Demokratie-)Verdrossen-heit zu reflektieren, spielt Panorama den Ball zurück zu denjenigen, die - scheinbar ohne Not - falschen und extremen Vorstellungen darüber anhängen, wie ein "starker Staat" (siehe oben!) auszusehen hätte.
"48 Prozent der Deutschen bezweifelten, dass die Demokratie wirklich funktioniert."

Na sowas, wo die das wohl her haben? Die restlichen 52 Prozent scheinen dagegen auf dem Mond zu leben oder noch an den Weihnachtsmann zu glauben. Hat man da überhaupt die Vertreter der deutschen Wirtschaft mitgezählt, in deren Augen die Politik doch auch nichts richtig macht?

"Eine einzige starke Partei wollen immer noch 22 Prozent der Deutschen."
Mehr nicht? Was machte denn die CSU, wenn sie plötzlich von 90 Prozent der Bajuwaren gewählt würde? Wird dann eine demokratische Obergrenze eingezogen und alles über 55 Prozent zur SPD geschickt?
"Einen Führer, der das Land mit starker Hand regiert, wünschen sich sogar über 11 Prozent."

Wieso eigentich "sogar" bei dem geringsten Prozentwert in der Aufzählung? Hat man schon mal untersucht, wie hoch der Wunsch nach starken Führern in den Leitungsetagen der deutschen Wirtschaft, auf den Trainerbänken deutscher Sportclubs oder bei den Bewohnern deutscher Flüchtlingsunterkünften ist?

Plumpe Manipulation

Unter den schlichten Gemütern, die der Filmbeitrag vorführt, scheint sich kein einziger Fürsprecher des bestehenden Demokratiemodells gefunden zu haben. Doch da ist ja noch der Take mit dem kurdischen Gemüsehändler, der noch nicht durch zu viele Wahlgeschenke verdorben ist und deshalb gern was Gutes über die Demokatie sagen will:
"In Europa gibt es die Menschenrechte. Es gibt Demokratie. Die Menschen ist frei. Ihre Meinung können sagen über Religion, über Freiheit, über seine Leben. Ist Menschen ist frei. Wenn sie was wolle machen, eine Straße machen oder irgendwas machen, die Fragen die Leute. Die fragen. Das müssen wir [in der Türkei, d.Verf.] auch machen. Bei uns in der Heimat die fragen garnix. Die machen Autobahn in Acker und niemand fragt. Die machen Straßen überall und fragen dich nix."

Ob das die Gegner von Ortsumgehungen, tiefer gelegten Bahnhöfen oder Windkraftanlagen auch so sehen? Einfach mal bei Google den Begriff "Protest gegen Ortsumgehung" eingeben bzw. unter "Polizeieinsatz Stuttgart 21" oder "Industrialisierung ländlicher Räume" recherchieren. Aber toller Coup, Panorama. Wie früher in der Schule. Da reden alle dummes Zeug. Und dann fragt der Lehrer den Streber. Und alle senken beschämt den Kopf (und verstecken dem Streber auf dem Nachhauseweg den Schulranzen).
Man kann sich die Realität auch nach eigenem Gusto zurecht machen wie Pippi Langstrumpf. Aber, werte Panorama-Redakteure, wir sind hier nicht beim Kinderfunk und auch nicht bei "Wetten dass?" oder "Wünsch dir was", sondern bei "So isses!". Da nützt es auch nichts, wenn am Ende des Beitrags der Hasslocher Bürgermeister seinen Schreibtisch auf den Markplatz stellt und den Bürgerfreundlichen und Gesprächsbereiten mimt. Oder sitzt der da jetzt jeden Tag, um sich die "Sorgen und Nöte" seiner Wähler anzuhören? Dann könnte man doch das Rathaus verkaufen und den Erlös in ein schöneres Schwimmbad investieren!?


Panorama indessen führt mit Hilfe der rührenden Szene vom unter freiem Himmel campierenden Stadtoberen wieder den tumben Pöbel vor. Statt die Gelegenheit zu nutzen, um mit ihrem Stadtoberhaupt nun endlich die zentralen Fragen eines modernen Demokratieverständ-nisses zu erörtern, etwa warum die Politiker gegen das Volk entscheiden oder nicht das getan werde, was das Volk will, geht's diesen Spießern nur um Kleinkram: Straßenbeschilderung, Geschwindigkeitskontrollen im Tempo-30-Bereich, Poller am Parkplatz und eine Drogerie für die alten Leut'.
Tja, was schreibt man denn normalerweise so auf seinen Wunschzettel? Weltfrieden? Faire Handelsbeziehungen mit Afrika? Verzicht auf lukrative Rüstungsdeals, die viele Arbeitsplätze erhalten? Angemessene Steuern für die Reichen und gerechte Aufteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen? Bändigung der Finanz-industrie? Einschneidende Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und organisierte Kriminalität?

Also entschuldigen Sie mal, das sind alles Probleme, die man weder lösen kann noch lösen will auf einem Marktplatz in der Pfalz, obwohl sie die Spielräume politischer Entscheidungen oder die bestehenden Verhältnisse maßgeblich beeinflussen. Und wo man etwas machen könnte, fehlt entweder das Geld oder die übergeordneten Behörden blockieren. Die Verwaltungen sind unterbesetzt, die politischen Ämter unattraktiv. Ortsbürgermeister arbeiten ehrenamtlich. Für ca. 80 rheinland-pfälzische Ortsgemeinden hat sich nicht mal ein Bewerber für das Amt gefunden. Von "Basisdemokratie ohne Basis" spricht der Deutsch-landfunk. Auch die Hauptamtlichen haben dank der ortsüblichen Kommunalverfassungen wenig zu melden. Sie können nur Vorschläge machen und müssen das exekutieren, was Magistrate und Stadtverordnetenversammlungen vorgeben.

Wie lange noch?

Am Ende des Panorama-Beitrags steht ein versöhnlicher Ausklang. "Es gibt auch schöne Momente in Hassloch", weiß der kleine Mann im Off. Das Bierfest. Blaskapelle, humtata. Brot und Spiele. Da tobt sich das ehrenamtliche Engagement des Bürgers und der Vereine aus. Von dem lebe eine Gemeinschaft, wird gesagt. Aber auch hier die bange Frage: "Wie lange noch?"
"Die Bürger fordern und andere müssen's tun", sagt der Bürgermeister ganz zum Schluss. Aber auch denen, die kein politisches Amt haben, wird ja einiges abverlangt. Das verrät ein Blick auf die Lohnabrechnungen oder die Einkommenssteuererklärung. Und dafür kann "der Bürger" verlangen, dass Recht und Gesetz beachtet, seine Steuern und Sozialabgaben im Sinne des Gemeinwohls eingesetzt, die Sozialsysteme rational und effektiv gestaltet und die notwendigen Entscheidungen mit Sachkompetenz getroffen werden. Und leider muss er feststellen, dass genau dies häufig nicht geschieht. Politische Entscheidungen orientieren sich überwiegend an den Wünschen und Interessen der Ober- und oberen Mittelschicht. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer und die dazwischen landen immer schneller bei den Armen. Und damit dies so bleibt, werden die Schwachen ständig gegen die Schwächsten ausgespielt. Und wenn die Politik klug wäre, was sie aber nicht ist, hätte sie längst bemerkt, dass das "Weiter so" in den alten Strukturen keine Option ist. Und deshalb wächst der Druck im Kessel so lange, bis es zur Explosion kommt.

2007 vernichtete ein vermutlicher Vorbote der Klima-Katastrophe, die selbst auch eine Folge politischer Versäumnisse ist, der Orkan Kyrill, einen Großteil der Fichtenbestände, hinter die die Politik den Bürger immer wieder zu führen versucht. Im selben Jahr, nur 24 Monate nach der Rezession von 2005, begann eine ebenfalls durch falsche Politik (Deregulierung) verursachte globale Finanz- und Wirtschaftskrise, deren weltweite Folgen auch heute noch nicht kompensiert sind. Die vom Windwurf niedergestreckten Nadelbäume wurden überwiegend mit Laubgehölzen nachhaltig aufgeforstet. Im naturnahen Mischwald kann nun niemand mehr hinter die Fichte geführt werden. Sinn dieser schrägen Metapher: Der Bürger lässt sich nicht länger die alten Märchen erzählen. Hänsel und Gretel verirren sich nicht mehr ins Hexenhaus und das Rotkäppchen zeigt dem bösen Wolf den Stinkefinger. Die selbstgenügsamen Lebensweisheiten eines Christian Fürchtegott Gellert sind aus der Mode gekommen. Der Wutbürger macht seiner Enttäuschung über das Versagen der wirtschaftlichen und politischen Eliten lautstark Luft. Der Kasseler Soziologe Heinz Bude schreibt:
"Die Affekte der Rebellion sind Wut und Zorn, die sich gegen diejenigen richten, die in den 'frivolen Jahren' des Neoliberalismus unermesslich reich und unglaublich verlogen geworden sind."
Wahlergebnisse werden zunehmend unberechenbarer. Die Altparteien müssen um sicher geglaubte Besitzstände fürchten. Und das ist gut so.

Eine der Verfallsformen der Demokratie ist die Ochlokratie (Pöbelherrschaft). Als deren Vorhut scheint die AfD zu fungieren. Gerechtere Verhältnisse, eine bessere Ordnung, eine aufgeklärtere Gesellschaft usw. sind von diesem diffusen Haufen zwar nicht zu erwarten. Aber die Wahlerfolge der Rechtspopulisten können die Parteien der bürgerlichen Mitte von Schwarz bis Grün und die mit ihnen sympatisierenden Mainstream-Medien zu der Einsicht zwingen, dass das Schönreden der sozialen Verhältnisse in Deutschland und anderswo sowie die Affirmation dessen was ist, was aber keineswegs so bleiben muss, nicht ausreichen, um die Erosion der Demokratie aufzuhalten.

Und in einem erweist die AfD der Demokratie doch einen großen Dienst: Wie keine andere Partei mobilisiert sie diejenigen, die schon lange nicht mehr zur Wahl gegangen sind. Nichtwähler haben in manchen Bundesländern die absolute Mehrheit. Man kann sie schon hören, die TRUMPeten von Jericho.

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