Samstag, 20. Mai 2017

Nachbarschaftsquartiere gegen die Vereinsamung (1)

Wichtiger Impuls des Kreisseniorenbeirats (Vogelsbergkreis)


Kürzlich wurde unter der Überschrift "Nachbarschaftsquartiere gegen die Vereinsamung" auf FOCUS regional der nachfolgende Beitrag eingestellt:
http://www.focus.de/regional/hessen/vogelsbergkreis-kreis-seniorenbeirat-nachbarschaftsquartiere-gegen-die-vereinsamung_id_7142913.html

Ich begrüße diese Initiative ausdrücklich, möchte aber auch einige kritische Anmerkungen anschließen, die dem Vorhaben hoffentlich hilfreich sind:

1.

Der Vorschlag, in geeigneten „Pilotquartieren“ die nachbarschaftlichen Strukturen zu beleben, um der Vereinsamung insbesondere allein lebender Menschen entgegen zu wirken, stellt einen richtigen Handlungsansatz dar, um auch ländliche „Lebensräume“ weiterhin attraktiv zu gestalten. 
Ich halte es allerdings für notwendig, sich mit dem Initiator und den Akteuren des Projekts (Kreis-Seniorenbeirat?) im Vorfeld der Realisierung künftiger Pilotprojekte – zum Beispiel im Rahmen einer „Initiativ- oder Planungsgruppe“ unter Beteiligung interessierter Bürger – über den richtigen Weg zur praktischen Umsetzung auszutauschen. Statt sich zum Beispiel lediglich in den jeweiligen Kommunen „nach geeigneten Pilot-Quartieren umzuhören“, sollten gleich zu Beginn plausible Kriterien für deren Vorauswahl entwickelt werden.

2.

Nicht sehr glücklich bin ich mit der Überlegung, in den ausgewählten Pilot-Quartieren „zunächst Befragungen anhand eines Fragebogens“ durchzuführen, „um die nachbarschaftlichen Verhältnisse mit allen positiven und negativen Punkten auszuloten“. Dies könnte sich als folgenschwerer Fehler erweisen, der den ausgezeichneten Handlungsansatz unnötig kompliziert. 

Jede Entwicklung eines Fragebogens, der am Ende valide Ergebnisse erbringen soll, erfordert ein hohes Maß an Expertenwissen. Fragenkataloge, die sich größtenteils auf Selbstbewertungen stützen, ergeben in aller Regel kein objektives Bild der Verhältnisse, mit denen dann konstruktiv gearbeitet werden könnte. Niemand gibt z.B. gern zu, selbst isoliert zu leben, sich wenig oder gar nicht um die Nachbarn zu kümmern oder im Alltag gar auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Wie schwierig es ist, "Bedarfe" innerhalb des privaten und nachbarschaftlichen Umfelds objektiv zu ermitteln, ergibt ein Blick in die folgenden Studien:

Diejenigen, die allein sind und daher - natürlich in sehr unterschiedlichem Umfang - Ansprache, Hilfe usw. benötigen (besser: benötigen würden), sind durch Umfragen nur schwer zu erreichen (vgl. Social Isolation Hypothesis). Vor allem subjektiv empfundene soziale Isolation, wie sie im psychologischen Konzept von Einsamkeit enthalten ist, beeinflusst die Teilnahmebereitschaft an Umfragen negativ. 

3.

Meine Anregung wäre, in den Pilot-Quartieren, die bereits nach dem Kriterium einer dort zu vermutenden Häufung von "Vereinsamten" (hoher Anteil alleinstehender Senioren, Alleinlebender jeden Alters, Alleinerziehender usw.) ausgewählt wurden, mit Hilfe der dort verankerten Institutionen, Vereine usw. (z.B. Kirchengemeinden, VdK, Betreuungsverein) einen „Besuchsdienst“ als Hauptform des Ehrenamts einzurichten, der die Aufgabe wahrnimmt, den in Frage kommenden Personenkreis (z.B. auch Bewohner von Seniorenheimen) festzustellen, zu kontaktieren und bei Bedarf regelmäßig aufzusuchen, um sich nach dem jeweiligen Wohlergehen zu erkundigen und ggf. konkrete Hilfen anzubieten. 



Die Aufnahme und Pflege nachbarschaftlicher Kontakte kann recht zwanglos auch in Form einer sog. „Feier-Brigade“ (Verballhornung von fire brigade) geschehen: Ein "Eventveranstaltungs"-Team bietet isoliert lebenden Menschen mit wenig Kraftreserven und Eigeninitiative an, Nachbarschaftsfeste zu konkreten Anlässen (Geburtstagen o.ä.) zu veranstalten oder einfach nur kleine Sommer-, Garten-, oder Grillpartys, Kaffetafeln oder gemeinsames Kochen und Essen zu organisieren. Der "Rundum-Service" schließt die Verteilung von Einladungen, "Speis' und Trank" (idealiter unter Einbeziehung von Foodsharing- und Foodsaver-Aktivitäten sowie Spendenaktionen), die "Möblierung" des "Festplatzes", die musikalische Untermalung (Musikanlage, Discjockey, Livekonzert) sowie das Aufräumen danach ein. Im Rahmen solcher Nachbarschaftsevents werden neue Kontakte zu dem jeweiligen "Gastgeber", aber auch generelle Aufmerksamkeit und Verantwortungs-bereitschaft im Nachbarschaftsquartier gestiftet. Auch so lässt sich – ganz ohne aufwändige Exploration der nachbarschaftlichen Verhältnisse – die Tendenz zur Vereinsamung und Ausgrenzung der isoliert Lebenden aufbrechen.
Ulrich Lange

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