Sonntag, 26. Februar 2017

Nachbarschaftshilfe gegen Betreuungslücke?









ULRICH LANGE
05.01.2017 | 19:46

Bedrückende Betreuungslücke


Daheim statt Heim | Die Gesellschaft vergreist. Doch wie sollen Millionen alter Menschen betreut werden? Die Politik hofft auf Kostenentlastung durch Nachbarschaftshilfe im Ehrenamt.
Hessens Sozialminister Stefan Grüttner und der Demografiebeauftragte der Landesregierung, Staatsminister Axel Wintermeyer, waren euphorisch gestimmt. Man beging den Auftakt eines Modellprojekts. Das Ziel: Ausbau des Angebots so genannter Senioren- und Generationenhilfen, Begleitung der Einrichtung neuer Projekte und Weitergabe der gewonnenen Erfahrungen an weitere interessierte Kommunen (vgl. Hessisches Ministerium für Soziales und Integration, kurz: HMSI).

Zunehmender Hilfebedarf

280.000 Euro hatte die Hessische Landesregierung im Rahmen der Seniorenpolitischen Initiative (SPI) für dieses Vorhaben locker gemacht, das den zukunftsträchtigen Namen "Modellprojekt Aufbau von Senioren- und Generationenhilfen“ erhielt. 280.000 Euro sind nicht wenig in Zeiten von Schuldenbremse und schwarzer Null. Doch solcherlei "Stärkung des Engagements von Freiwilligen und Ehrenamtlichen" - da wusste Grüttner das Hessische Ministerium für Soziales und Integration, die Hessische Staatskanzlei und die LandesEhrenamtsagentur Hessen einig - zahle sich aus,
>> weil sich wegen der Alterung der Gesellschaft ein zunehmender Bedarf an Unterstützung für ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger abzeichnet. „Senioren- und Generationenhilfen bieten die Möglichkeit, diesem Mehrbedarf zu begegnen. Hier kann der organisatorische Rahmen für niedrigschwellige Hilfssysteme bereitgestellt werden.“ <<
Nun gäbe es sicherlich auch andere Wege, dem zunehmenden Unterstützungsbedarf der Älteren gerecht zu werden. Aber qualifizierte Betreuung kostet eine Stange Geld. Da erscheint der Gedanke logisch, dem professionellen Pflegesektor im ambulanten wie im stationären Bereich "niedrigschwellige Hilfssysteme" vorzuschalten, die laut Minister "genau das" bieten, "was ältere Menschen an Unterstützung für ein möglichst selbstständiges Leben brauchen, so dass sie weiterhin in ihrem Heimatort leben können: Mobilitäts-angebote, Besuchsdienste, Begleit- und Einkaufshilfen, handwerkliche oder Gartenhilfe, aber auch beispielsweise eine gemeinsame Mittagstafel".
Die "erzielten Erfahrungen und Ergebnisse" aus dem Modellprojekt wurden Ende 2015 in der Broschüre „Senioren- und Generationenhilfen in Hessen“ veröffentlicht. Schon beim ersten Überfliegen der eher schmalen Druckschrift stellen sich jedoch spontane Bedenken ein, ob Nachbarschaftshilfe-Projekte der beschriebenen Art wirklich der große Wurf sein können, wenn die demografiebedingt dräuende Betreuungslücke geschlossen werden soll. Auf drei Vierteln der knapp 60 Seiten findet man Selbstbeschreibungen der 26 beteiligten und zumeist besonders geförderten Projekte aus vier hessischen Landkreisen, die natürlich bemüht sind, gut auszusehen.

Viele Erfahrungen, wenig Ergebnisse

Verallgemeinerbare Erkenntnisse, die etwa den Weg weisen zu einer flächendeckenden Reproduktion besonders gelungener Beispiele von Nachbarschafts-/Seniorenhilfe-Vereinen bzw. zu deren gezielter Förderung in ganz Hessen (dann natürlich ohne die zusätzlichen Fördergelder), sucht man dagegen vergebens. Es überwiegen die gewohnte Mutmach-Rhetorik und Allerweltsratschläge wie die, nur immer fleißig Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, sich mit allen, die irgendwo irgendwas zu sagen haben, tunlichst zu vernetzen und sich vor allem der Unterstützung der eigenen Gemeinde zu versichern.
Dabei hätte die zentrale Erfahrung der meisten Engagierten in der Nachbarschaftshilfe, dass man vor allem einen "langen Atem" brauche, bis das Hilfeangebot überhaupt wahr- und vor allem angenommen werde1, zu einer vertiefenden Analyse der Ursachen dafür führen müssen, dass ein offensichtlich gegebener und nachvollziehbarer Hilfebedarf sich nicht in reger Inanspruchnahme der Hilfsangebote manifestiert. Das "Forschungsmaterial" hierzu hätte jedenfalls vorgelegen.
Denn auch auf nahe verwandten Feldern der Sozialpolitk hat man längst ähnliche Beobachtungen gemacht. Beispiel pflegende Angehörige. Lassen wir einmal die Kritik an einer viel zu geringen Unterstützung dieses Personenkreises außer acht, ohne dessen (Selbst-)Ausbeutung das deutsche Pflegesystem zusammenbrechen würde, so besteht auch hier die schwer nachvollziehbare Situation, dass ein hoher Prozentsatz der Bedürftigen und Berechtigten nicht einmal die wenigen, nur zögerlich aufgestockten Unterstützungsangebote des Staates für sich nutzt. Über die Gründe schreibt der Berliner "Tagesspiegel" unter der Überschrift "Aus Scham überfordert":
>> Trotz starker Belastung nutzt nur eine Minderheit der pflegenden Angehörigen die Unterstützungsangebote der Pflegeversicherung. Zu diesem Befund kommen die Autoren des neuen AOK-Pflegereports, der am Montag in Berlin präsentiert wurde. Ihrer Umfrage zufolge werden bestehende Pflegekassenofferten wie Kurzzeit-, Verhinderungs- oder Tagespflege von nicht mal jedem fünften Pflegenden in Anspruch genommen. Mehr als 36 Prozent verzichten sogar auf einen ambulanten Pflegedienst.<<
Die Wirkungskette "Bedürfnis - Bedarf - Nachfrage" ist von der betriebswirtschaftlichen Bedarfsforschung eingehend untersucht und auf ein weiteres verwandtes Problemfeld, nämlich die Akzeptanz der Angebote professioneller Pflegedienste übertragen worden. Aus den Untersuchungsergebnissen lässt sich die plausible Hypothese ableiten, dass die mangelnde Inanspruchnahme von Hilfsangeboten nicht primär dem unzureichenden Bekanntheitsgrad der Nachbarschaftshilfeprojekte zuzuschreiben sei, wie dies unter profes-sionellen Engagementförderern als ausgemacht gilt. Und erst recht kann fehlende Resonanz gegenüber organisierter Nachbarschaftshilfe nicht als beruhigendes Indiz dafür gewertet werden, dass die bestehenden Dorf- und Quartiersgemeinschaften noch so funktionierten wie in alten Zeiten. Groteskerweise scheint eher die Umkehrung zuzutreffen: Wo der Zusammenhalt der Dorf- oder Siedlungsgemeinschaft ohnehin noch vorhanden ist, gelingen auch Nachbarschaftshilfe-Projekte, die man eigentlich gar nicht brauchte. Wo der Zusammenhalt fehlt und objektiver Bedarf an solidarischen Ersatzstrukturen herrscht, dagegen nicht.

Vielschichtige Problematik

Je älter der Hilfsbedürftige und je größer seine Not, um so größer ist oft auch die Scham über die eigene desolate Situation. Insbesondere Fremden gegenüber möchte man nicht offenbaren, dass man mit den alltäglichen Aufgaben bereits überfordert ist. Das Vorhandensein von Nachbarschaft muss da nicht grundsätzlich hilfreich sein, füchtet man doch das Gerede über erste Zeichen von Verwahrlosung in der Wohnung, Verwirrung des Bewohners oder die ausbleibende Fürsorge der eigenen Angehörigen. Und so manche uneigennützig scheinende Hilfe ist dann vielleicht doch mit der unterschwelligen Erwartung materieller Gegenleistungen verbunden. Das Misstrauen vor allem isoliert lebender Senioren, das häufig als Hinderungsgrund nachbarschaftlicher Hilfe genannt wird, ist insofern nicht immer unberechtigt. Hilfsbedürftige Senioren geraten schnell ins Visier von Erbschleichern, Abschmeichlern und Dieben. Selbst das amtliche Betreuungswesen ist nicht ohne erschröckliche Beispiele von Selbstbereicherung und Verschleuderung fremden Vermögens, oft über den Tod des "Betreuten" hinaus.

Wo Menschen sind, da menschelt es. Gute Nachbarn sind nun mal so selten wie gute Menschen. Und erbitterter Streit innerhalb von Haus- oder Siedlungsgemeinschaften - das illustrierte schon die einst von Stefan Raab besungene Groteske um Maschendrahtzaun und Knallerbsenstrauch - ist vermutlich häufiger als bestes Einvernehmen. Auch aus dieser Tatsache ergibt sich häufig ein eher distanzierter Umgang miteinander. Hinzu kommt, dass ältere Menschen (oder ihre pflegenden Angehörigen) aufgrund ihres Lebensschicksals, erschwerter Lebensumstände usw. seelisch erkranken. Wer durch Dauerstress oder permanente Überforderung erschöpft ist, neigt zu Depressionen und hierdurch wiederum zum Rückzug von der Außenwelt. Hilfsangebote, aber auch Hilfsbedürftigkeit werden dann kaum noch wahrgenommen.

Geldmangel ist nicht nur ein Anlass, Unterstützung von außen zu suchen, sondern kann auch eine Barriere darstellen, die verhindert, dass Hilfe angenommen werden kann. Mini-Renten lassen beispielsweise selbst geringe Kostenbeteiligungen oder Zuzahlungen zum Problem werden, erst recht natürlich die Kostensätze professioneller Pflegedienste. Gut gemeinte Hilfsangebote, die nicht ohne eine Selbstbeteiligung der Empfänger auskommen, sorgen dann trotz vermeintlich sozialer Preisgestaltung für den Ausschluss derer, die gar nichts haben.
Hinzu kommt, dass Antragstellungen bei Ämtern oder Krankenkassen manchen zu kompliziert erscheinen, vor allem wenn sie bereits hochbetagt oder wenig gebildet sind. Oft fehlt es auch an Kontakten, um sich ortsnahe Hilfsangebote zu erschließen, oder man ist aufgrund früherer Erfahrungen skeptisch gegenüber der Qualifikation und Verlässlichkeit der Helfer.
Der "niedrigschwellige Bereich", etwa das Auswechseln einer Glühlampe in der Deckenbeleuchtung, das Erledigen von Einkäufen oder Stapeln von Brennholz, funktioniert reibungslos, wenn er mal eben "über den Gartenzaun" organisiert werden kann. Wenn hierzu aber in einer "Zentrale" angerufen werden muss, die erst nach Feststellung eines geeigneten Helfers einen Rückruf in Aussicht stellt und zeitnah vielleicht gar keinen findet, wenn dann erst umständlich ein Termin vereinbart werden muss usw., entsteht schnell ein Missverhältnis zwischen geringem Umfang der Hilfe im Einzelfall und hohem Aufwand, um diese Hilfe abzurufen.
Dasselbe gilt bei vereinsinterner Betrachtungsweise. Nachbarschaftshilfe-Vereine sind Gebilde mit schwerfälliger Selbstorganisation. Entscheidungsprozesse dauern - je nach Satzung - sehr lange. Ähnlich die Umsetzung von Beschlüssen. Die Selbstkosten sind nur im Vergleich zur öffentlichen Verwaltung gering, im Verhältnis zu den Einnahmen aber hoch. Schon die Ausgaben für Raummiete, Telefon, Büroausstattung o.ä. fressen oft das gesamte Aufkommen an Mitgliedsbeiträgen. Entsprechend viel Zeit muss in die ständige Werbung neuer Mitglieder und deren Betreuung investiert werden. Umfangreiche Verwaltungsarbeiten fallen an: Die Vereins-Webseite ist zu gestalten und zu pflegen, Emails müssen beantwortet, Anrufe entgegen genommen und dokumentiert, Termine vereinbart, Leistungen (Fahrgeld- und sonstige Kostenbeiträge der Hilfe-Empfänger) abgerechnet, Veranstaltungen vorbereitet und durchgeführt, Flyer gedruckt und verteilt werden u.v.a.m. Hinzu kommt die Büroarbeit, die sich aus den Hilfe-Einsätzen selbst ergibt: Hilfeersuchen müssen aufgenommen und weitergeleitet, Aufträge an entsprechend befähigte Helfer erteilt bzw. Ersatzhelfer gesucht, Zeitkonten geführt, Kilometer abgerechnet werden usw. Bei Missgeschicken und Unfällen muss man sich mit den Papierbergen von Versicherungen herumschlagen.
Oft entsteht aus der unzureichenden Resonanz der Mitbürger unter den Aktiven erheblicher Frust, auf den "seelsorgerisch" reagiert werden muss. Wenn die obige Broschüre des HMSI ausgeführt
>> Damit auch diejenigen, die sich mit viel Elan in ein neues Engagement begeben, dabei bleiben, sind Aktivitäten hilfreich, die das Miteinander der Initiativmitglieder fördern. Hier bieten sich Vereinsfeste, Geburtstagsgrüße, Ehrungen, Stammtische, Kaffeenachmittage oder gemeinsame Unternehmungen an. <<
erahnt man, dass da wohl wenige "Überengagierte" bis zur Erschöpfung ackern (müssen), um "den Laden" in Gang zu halten. Und das, bevor noch die erste Stunde praktischer Nachbarschaftshilfe geleistet ist.
Das große Spektrum an Unterstützungsangeboten, das man sich in der Euphorie der Gründungsphase hat einfallen lassen, wird vielfach nicht ausgeschöpft. Es verbleiben unterm Strich als Hauptaktivitäten oft nur relativ banale Dienstleistungen wie Hol- und Bringdienste (Behörden/Arzt, Krankenhaus) oder Einkaufsfahrten mit dem PKW. Die können in Anspruch genommen werden, ohne dass man Fremden Zutritt zu den eigenen vier Wänden gestatten muss, und sparen bares Geld (Taxi ist teurer), kommen dann aber dem Beförderungsgewerbe gefährlich ins Gehege. Der philantropische Ansatz (Gesellschaft leisten gegen die Einsamkeit, Spazieren gehen, gemeinsame Unternehmungen, Vorlesen, Gespräche usw.), der eine starke Triebfeder vieler ehrenamtlich Aktiver ist, bleibt auf der Strecke.

Organisierte Nachbarschaftshilfe - das falsche Modell?

Lässt man den Zweckoptimismus engagementfördernder Politiker einmal beiseite, die sich - je nach aktuellen Förderprogrammen - mal für Seniorenbüros, Mehrgenerationenhäuser, Flüchtlingsbetreuung, Nachbarschafts- bzw. Generationenhilfe-Projekte oder aber die Vernetzung aller mit allen stark machen, gelangt man zu der ernüchternden Einschätzung, dass vereinsmäßig organisierte ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe gegenüber der echten Nachbarschaft einerseits und professionellen Pflegediensten kommunaler, freigemeinnütziger oder privatwirtschaftlicher Träger andererseits, die zunehmend auch so genannte "Alltagshilfen" oder "haushaltsnahe Dienstleistungen" im Programm haben, die jeweils unvorteilhaftere Lösung darstellt.
Genau deshalb werden sich Generationenhilfe-/Nachbarschaftshilfe Projekte - allem Hurra-Geschrei der Ehrenamtspropaganda zum Trotz - nicht im Entferntesten zum Modell einer flächendeckenden Versorgung mit haushaltsnahen Dienstleistungen für Senioren entwickeln, die so lange wie möglich selbständig in einem eigenen Haushalt leben möchten und dies nach dem Willen der Politik ja auch sollen, weil das angesichts der immer wieder angekündigten Pflegekatastrophe die personellen Ressourcen und die Pflegekassen schont.

Ein Beispiel: Im Vogelsbergkreis, dem dünnst besiedelten und von Bevölkerungsschwund mit am stärksten betroffenen Landkreis Hessens, haben sich in den letzten 20 Jahren gerade einmal sieben Nachbarschaftshilfe-Projekte etabliert, die nicht einmal alle bereits gut funktionieren. Extrapoliert man dieses Szenario unverändert, würde es noch einmal 540 Jahre dauern, bis jede der 186 selbständigen Ortschaften im Kreisgebiet mit einer eigenen Generationenhilfe versorgt wäre.

Es sollte also über andere Lösungen zur Schließung der demografiebedingten Betreuungslücke nachgedacht werden. Überzeugendere Alternativen zur stationären Altenpflege und neue Ideen müssen her, die einfacher strukturiert, dadurch schneller umsetzbar und dort, wo es um regelmäßige Unterstützung im Alltag geht, auch zuverlässiger und qualifizierter sind. In diesem Zusammenhang dürfen allerdings nicht ständig neue Kampagnen losgetreten und Parallelstrukturen installiert werden, derer es schon viel zu viele gibt und denen mit dem Auslaufen der zum Projektstart gewöhnlich ausgelobten Anschubfinanzierungen und Förderprogramme dann regelmäßig die Luft ausgeht.

Zentrale Kriterien wären:
  • Was funktioniert auch ohne ständiges Schönreden und fromme Selbsttäuschung, einfach weil es praxisgerecht und vernünftig ist?
  • Welches Konzept ist so nahe an den "naturwüchsigen" Entwicklungs- und Gestaltungsprozessen des realen Lebens, dass es zu seiner Begründung und praktischen Umsetzung keiner hochkomplexen und ressourcenfressenden Organisationsstrukturen bedarf?
  • Wie erreicht man mit den passenden Angeboten gerade diejenigen, die sie zwar am nötigsten brauchen, sie aber aus unterschiedlichsten Gründen weder einfordern noch in Anspruch nehmen können?
Im bisherigen Diskurs um Nachbarschaftshilfe/Generationenhilfe findet man hierzu nur selten schlüssige Antworten.

Ohne Hauptamtliche geht`s nicht

So sollte man nicht nur das Potenzial des ehrenamtlichen Engagements lobpreisen, sondern sich auch dessen Grenzen bewusst machen. Dazu gehört die längst hinreichend kommunizierte Erfahrung, dass sich die notwendigen Angebote zur Abdeckung bestehender und zukünftiger Hilfebedarfe ohne hochqualifizierte Hauptamtliche weder entwickeln noch verstetigen lassen. Oder dass keine einfachen "Bastelanleitungen" für "niedrigschwellige Hilfesysteme" gibt, die nur den Kommunalverwaltungen angegliedert werden müssen (wo der erforderliche Sachverstand auch nicht immer zuhause ist), um dann von Laien "vor Ort" erfolgreich umgesetzt zu werden.
Entsprechende Rückmeldungen aus der Praxis bestätigen diese Erfahrung. So setzte sich zum Beispiel nach einem Bericht des Medienportals "Der Westen" vom 18.08.2014 die Landesseniorenvertretung von Nordrhein-Westfalen vehement für den Einsatz von "Stadtteil-Kümmerern" im Rahmen der Altenhilfe-Arbeit in Städten und Gemeinden ein. Begründung:
„Die Bedeutung der Quartiere für ein möglichst lange selbst bestimmtes Leben der älter werdenden Bewohner wird immer wieder betont“, so die LSV-Vorsitzende Gaby Schnell, „aber es muss auch finanzielle und personelle Ressourcen geben, um die Arbeit vor Ort zu gestalten.“
Und weiter heißt es:
„Bei der Arbeit vor Ort wird deutlich, dass es nicht nur um Angebote und Informationen gehen kann, sondern dass anhaltende und aufsuchende Gemeinwesenarbeit erforderlich ist. Man braucht einen „Kümmerer“, der sich für das Quartier einsetzt, die vorhandenen Angebote zusammenführt, Angebote zur Prävention von Vereinsamung und Erkrankung macht. Dazu müssen die Kommunen Personen mit sozialpädagogischer und sozialarbeiterischer Kompetenz einsetzen können."
Und zu den Grenzen von "Good Practice"/"Best Practice" im Bereich von Nachbarschaftshilfe-Projekten liest man in dem Abschlussbericht zu dem Raumordnungsprojekt MORO (MORO-Informationen 10/3 - 11/ 2013, S. 13):
>> Die mittlerweile dokumentierten guten Beispiele [...] führen aber auch zu der These, dass die Verbreitung und vielfache Nachahmung derartiger Quartierskonzepte nicht allein durch den Vorbildeffekt der guten Beispiele in Gang kommt. Entscheidend ist, dass der Organisations- und Vernetzungsaufwand im Einzelfall hoch bleibt und vor Ort „jemand“ gefunden werden muss, der diesen Aufwand schultert. Insofern sind die Entstehungsbedingungen der vorhandenen Beispiele hinsichtlich Motivation und Leistungsfähigkeit zu beachten: Einmal handelt es sich um Beispiele, die [...] von dem [...] fachpolitischen Pioniergeist [bestimmter Modellprojekte; der Verf.] getragen werden. In anderen, eher von der Bürgerschaft organisierten Fällen sind es wie bei der Seniorengenossenschaft Riedlingen außergewöhnliche, in den handelnden Personen begründete Konstellationen. Beides kann kaum die Grundlage einer Übertragbarkeit und einer entsprechenden Verbreitung bzw. Regelanwendung sein. <<

"Begleitforschung" mit falscher Fragestellung

Die so genannte Begleitforschung zu ehrenamtlich getragenen Nachbarschaftshilfe-projekten (siehe die o.g. "Ergebnis-Broschüre" des HMSI oder das Forschungsprojekt BUSLAR der Hochschule Fulda) erweist sich aus den genannten Gründen als relativ unergiebig. Sie ist weitgehend als "Fördermittel-Verbrauchsforschung" zu kennzeichnen und dient hauptsächlich dem Eigeninteresse von Professor_Innen im Hinblick auf die Einwerbung von Drittmitteln sowie der Selbstdarstellung der Auftraggeber, die sich natürlich durch "Erfolge" bestätigt sehen wollen. Die bei BUSLAR mittels "partizipativer" Forschungsansätze oder auch in anderen Zusammenhängen (MORO) erhobenen guten Beispiele ("best practice"/"good practice") können schon aufgrund der nicht reflektierten Zufälligkeit ihrer Entstehungsbedingungen als Modelle nicht überzeugen.
Um das richtige Organisationsmodell für "Nachbarschaftshilfe" zu finden, hätte man kritische Vergleiche zu anderen Formen der alltagspraktischen Unterstützung anstellen können, die dem ursprünglichen Konzept (spontane Vereinbarung "über den Gartenzaun" bzw. "von Tür zu Tür") näher sind. Hierfür hätte sich z.B. die längst vielfach bewährte ehrenamtliche Aktiv-Patenschaft angeboten. Patenschaftsmodelle lassen sich auch im Bereich der "niedrigschwelligen" Seniorenbetreuung realisieren. Warum sollte es neben "Familienpaten", die jungen Familien in Erziehungsfragen beistehen, "Leih-Omas und -Opas", "Lern- und Ausbildungspaten" für Kinder und Jugendliche mit Schwierigkeiten im Bildungs- und Qualifikationsprozess usw. nicht ebensogut auch "Alltagshilfe-Paten" geben, die im Auftrag von Freiwilligenagenturen, Diekoniestationen usw. bei ihren älteren Mitbürgern regelmäßig nach dem Rechten sehen und im Bedarfsfall einen Helfer vermitteln, der regelmäßig bestimmte Unterstützungsleistungen übernimmt oder Grundsätzliches regelt wie den seniorengerechten Umbau einer Wohnung mit Zuschüssen der Pflegekasse? Diese Helfer als die eigentlichen Paten könnten über die Aktiven in Freiwilligenagenturen und Pflegstützpunkten oder auch über Betreuungsvereine in der direkten Nachbarschaft "angeworben" werden. Das Patenschaftsmodell eignet sich in seiner passiven Form darüber hinaus hervorragend zum Fundraising, mit dessen Hilfe z.B. die hauswirtschaftliche Unterstützung von "Triple-A-Personen" (scherzhafte Bezeichnung für Menschen, die zugleich alt, allein und arm sind) finanziert werden könnte. Wer nicht direkt helfen will oder kann, trägt mit einem kleinen monatlichen Obolus zur Finanzierung haushaltsnaher Dienstleistungen für "seine(n) Senior(in)" bei.

Was zuverlässige Alltagshilfen in größerem Umfang angeht, die ältere Mitbürger bei schwindender Alltagskompetenz vor der Verwahrlosung bewahren, bedarf es grundsätzlich einer aufsuchender Form der Betreuung, die Nachbarschaftshilfe-Vereine nicht leisten, sowie regelmäßiger professioneller Dienstleistungen, die Nachbarschaftshilfe-Vereine nicht erbringen sollen, um der Privatwirtschaft keine Konkurrenz zu machen. Dies ergibt sich eindeutig aus den Ergebnissen der Bedarfsforschung im Kontext ambulanter Pflegedienste, wie sie einer vom Hessischen Sozialministerium bereits im Jahr 2008 veröffentlichen Bedarfsanalyse zum Thema Haushaltsnahe Dienstleistungen, bezogen auf die Haushalte älterer hilfs- bzw. pflegebedürftiger Personen, zu entnehmen sind. Es heißt dort nämlich (ebd. S. 39):
>> Im Fall der von uns aufgesuchten Haushalte besteht die Schwierigkeit im Übergang zwischen objektivem Mangel und Bedürfnis meist darin, dass die Betroffenen nicht wahrhaben/akzeptieren wollen/können, dass sie hilfebedürftig sind. <<
Und an anderer Stelle (ebd. S. 20 f.):
>> Die höchste Bedeutung wird von den Haushalten, in denen ausschließlich Personen in einem Alter von 65 und mehr Jahren leben, der Zuverlässigkeit der Anbieter beigemessen. Nahezu alle Haushalte halten über alle Dienstleistungsarten hinweg dieses Leistungskriterium für wichtig oder sehr wichtig. [...] Zwischen 70 und 80 Prozent der Haushalte, in denen ausschließlich Personen in einem Alter von 65 und mehr Jahren leben, halten die formale Qualifikation der Leistungsanbieter für wichtig oder sehr wichtig. Eine große Mehrzahl der Haushalte, in denen ausschließlich Personen in einem Alter von 65 und mehr Jahren leben, sehen demnach in den aufgeführten haushaltsnahen Dienstleistungen grundsätzlich keine Tätig-keiten, die sie ohne entsprechende Qualifikation durchgeführt sehen wollen. <<
Neben den oben vorgeschlagenen "Seniorenpaten" könnten bei der Bedarfsermittlung zusätzlich verschiedene Funktionsträger, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Zutritt zu jedem Haus oder zu bestimmten Problem-Haushalten haben (Stromableser/ Wasserableser, Notärzte usw.) für die Aufgabe sensibilisiert werden, den zuständigen Stellen (Betreuungsbehörden) Hinweise auf ersichtliche Defizite der Selbstversorgung oder Betreuung zu geben.
Wirkungsvoller wäre allerdings ein Gesamtkonzept ähnlich dem der schwedischen Altenfürsorge. Hier werden über 65-Jährige regelmäßig von Mitarbeitern der Kommune besucht und zu ihrem Hilfebedarf befragt. Auch die Alltagshilfen selbst werden überwiegend von den Kommunen organisiert2). Der Vergleich mit Schweden macht zugleich deutlich, welch ein dysfunktionales und lückenhaftes Betreuungssystem sich ein reiches Land wie das unsere "leistet". Dabei könnte ein Großteil der Kosten für eine Verbesserung des Systems hierzulande durch bloße Umschichtung von Mitteln (weitgehenden Verzicht auf Pflegeheime und Einsparung der sehr hohen Ausgaben für die stationäre Pflege) aufgebracht werden.

Neue sozialpolitische Ansätze erforderlich

Statt mit enormem Zeitaufwand eine extrem "vielgestaltige" Billigbetreuung auf ehrenamtlicher Grundlage zu forcieren, deren "Reichweite" höchst zweifelhaft ist, sollte die Politik nun endlich an einem breiten und sicheren Fundament der Daseinsvorsorge im Vorfeld der Pflegebedürftigkeit arbeiten, das auf den Säulen "aufsuchende Bedarfsermittlung" und "ambulante hauswirtschaftliche Unterstützung" ruht, wobei letztere nicht nur den in ihrer Wohnung/ihrem Haus allein lebenden Senioren, sondern ggf. auch pflegenden Familienangehörigen zugute kommen sollte.
Die in der Seniorenarbeit bestehende Betreuungslücke, ja Betreuungskatastrophe zeichnet sich im Übrigen nicht erst für die Zukunft ab, wie die politische Elite es unisono behauptet. Sie ist längst eingetreten und kann nur so lange verdrängt und schön geredet werden, wie ein Großteil der Betroffenen die notwendigen Unterstützungsleistungen nicht einfordert. Würde dies plötzlich geschehen, käme es zum Skandal. Denn ein ausreichendes Angebot an kommunalen, kirchlichen oder privatwirtschaftlichen (Pflege-)Diensten, die Senioren mit Einschränkungen im Alltag unterstützen könnten, ist vielfach noch gar nicht vorhanden. Zum Beleg sollen wiederum die Verhältnisse im hessischen Vogelsbergkreis herangezogen werden. Im gesamten Kreisgebiet bietet nur ein einziger Pflegedienst in Trägerschaft des diakonischen Werkes (allerdings mit Filialen in vier Städten und Gemeinden) überhaupt Alltagshilfen/haushaltsnahe Dienstleistungen an. Die wenigen Seniorenhilfe- bzw. Nachbarschaftshilfe-Vereine, die dort in den letzten zwei Jahrzehnten entstanden sind, können das bestehende Betreuungsdefizit aus den oben bereits genannten Gründen nicht im Entferntesten decken, ja nicht einmal mildern. Die wirklich Hilfsbedürftigen, sozusagen die Ärmsten der Armen, sind über Nachbarschaftshilfe-Projekte grundsätzlich nicht zu erreichen. Hier verpufft ein Hilfspotenzial weitgehend wirkungslos in der Harmlosigkeit teilweise entbehrlicher Gefälligkeits-Dienste oder mit der Privatwirtschaft konkurrierenden Angeboten (Fahrdienste), weil im Kontext des fiskalisch begründeten Rückzugs des Staates von einer präventiven Sozialpolitik und der "Vermarktlichung sozialer Infrastrukturen" bestenfalls noch "nachsorgende Schadensbegrenzung" stattfindet, in der ehrenamtliches Engagement eine Alibifunktion erfüllt, die von offensichtlichen Defiziten der Daseins-vorsorge ablenken soll.

Genau aus diesem Grunde wird die Qualitätsdiskussion im Zusammenhang mit der Deckung des "zunehmenden Hilfebedarfs" von Senioren durch Nachbarschaftshilfe-Vereine auch tunlichst vermieden. Daneben bleibt vollkommen offen, wie und von wem das qualifizierte Angebot kommen soll, das den zunehmenden Hilfebedarf von noch nicht vollständig pflegebedürftigen Senioren, das durch ehrenamtliche Nachbarschafts-/ Seniorenhilfe nicht erbracht werden kann, jetzt und in Zukunft abdeckt. Grundsätzlich scheint ein flächendeckendes Angebot (von welcher Qualität auch immer) an haushaltsnahen Dienstleistungen zur alltäglichen Unterstützung allein lebender Senioren nur in den wenigsten Fällen bereits zum Angebot professioneller Pflegedienste zu gehören.
Es ist zu vermuten, dass der Bedarf nach qualifizierten Dienstleistungen auf diesem Sektor entweder überhaupt nicht gedeckt wird und viele ältere, zurückgezogen lebende Menschen daher unversorgt bleiben, Angehörige oder Nachbarn mehr oder minder unfreiwillig einspringen oder die Lücke durch Einsatz ungelernter Kräfte und durch Schwarzarbeit gefüllt wird. Insider sprechen mittlerweile nicht nur von einem zweiten, sondern dritten und vierten Arbeitsmarkt. Es geht das böse Wort von der "Pflegeausbeutung in den eigenen vier Wänden" um.

Ein Großteil der Seniorenhaushalte der untersten Einkommenskategorie (weniger als 1300 Euro monatlich), die angesichts einer durchschnittlichen Monatsrente von brutto1.214 Euro (alte Bundesländer) bzw. 964 Euro (neue Bundesländer) zuzuordnen ist und als arm gelten, würde sich allerdings weder die Angebote professioneller Pflegedienste (wenn sie denn überhaupt in ausreichendem Umfang zur Verfügung stünden) noch Angebote vom Schwarzmarkt leisten können. Auch hier wird wiederum die soziale Spaltung unserer Gesellschaft deutlich, die aktuell im ARD-Europamagazin vom 8.1.2017 erst wieder als europaweites Phänomen dargestellt wurde.

Der Verbleib in der gewohnten Umgebung mit Hilfe ambulanter Alltagshilfen ist also ein soziales Privileg der Senioren mit überdurchschnittlichen Altersbezügen. Die Mehrheit der Senioren hat - auch bei vielleicht nur geringen Einschränkungen der Alltagskompetenzen - lediglich die Wahl zwischen niedrigster Lebensqualität (Verwahrlosung) und der stationären Unterbringung in Pflegeheimen, in denen Personalmangel und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen zu Zuständen führen, dass es die Deutschen "vor dem Altwerden graut" (Spiegel online).
Die Politik könnte die Katastrophe abwenden, indem sie ein schlüssiges Gesamtkonzept der Altenbetreuung entwickelt, anstatt im Sinne "nachsorgender Schadensbegrenzung" mit der Pipette nur Almosen in ein ineffizientes System zu träufeln. Dass dies am Ende die teuerste Lösung darstellt, wird immer erst sichtbar, wenn sich die Verursacher schon längst den Wohltaten jener hingeben, auf deren Interessen ihre politischen Entscheidungen stets Rücksicht genommen haben. Längst ist die soziale Marktwirtschaft zu einer oligarchischen Sklavenhalter-Gesellschaft verkommen, in der es wenigen sehr gut, einigen noch gut, aber vierzig Prozent bereits schlecht geht. Erst wenn man merkt, dass die Sklavenhalterei - etwa in Form von Mini-Löhnen - am Ende zu Lasten der Sozialkassen geht, wird millimeterweise nachjustiert. Man täte gut daran, die Übernahme der Kosten haushaltsnaher Dienstleistungen zu angemessenen Tarifen im Bedarfsfall auch außerhalb der Leistungen der Pflegeversicherung bzw. schon im Vorfeld der Zuerkennung eines entsprechenden Pflegegrades in Erwägung zu ziehen. Denn die einzig verbleibende Alternative, die stationäre Unterbringung eines Millionenheers nur leicht unterstützungsbedürftiger Senioren, verursachte ein Mehrfaches der für ambulante Alltagshilfen anfallenden Kosten.
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(1) "Die meisten der inzwischen etablierten Vereine und Initiativen haben die Erfahrung gemacht, dass am Anfang das Angebot an Hilfen größer als die Nachfrage nach Unterstützung ist. Oft fehlt einfach die Information oder die Menschen scheuen sich, öffentlich um Hilfe zu bitten. Hier ist manchmal ein langer Atem gefragt."
(2) Der Anteil privater Anbieter von Pflegeleistungen wuchs in Schweden aufgrund zunehmender Vermarktlichungstendenzen von ca. einem Prozent um die Jahrtausendwende auf jetzt etwa 20 Prozent.

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